Benchmarking von Mindesteinkommen zur Förderung der Aufwärtskonvergenz
Text: Olivier Bontout, Katalin Szatmari, Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration1
Zwar hatte sich die soziale Situation in Europa verbessert, als die Covid-19-Krise einsetzte, doch die verbleibenden und sich abzeichnenden Herausforderungen erfordern kontinuierliche Anstrengungen zur Gewährleistung wirksamer nationaler sozialer Sicherheits-netze, die den Zusammenhalt der Gesellschaften und gerechte Übergänge fördern. Der EUweite Benchmarking-Rahmen zu Mindest-einkommenssystemen unterstützt gegenseitiges Lernen und die Aufwärtskonvergenz nationaler Systeme.
Europa verfügt über einige der höchsten Lebensstandards, der besten Arbeitsbedingungen und der wirksamsten Sozialschutzsysteme der Welt. Zwar hat sich die Finanzkrise von 2008 negativ auf die soziale Situation in Europa ausgewirkt, doch dieser negative Trend wurde weitgehend umgekehrt, bis die Covid-19-Krise einsetzte: Die Zahl von Personen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, hat sich 2018 im sechsten aufeinanderfolgenden Jahr verringert.2 Die Beschäftigungsquote erhöhte sich weiterhin, wenn auch langsamer, und die Arbeitslosigkeit lag im dritten Quartal 2019 bei einem Rekordtief von 6,3 Prozent.
Diese Trends maskieren jedoch einen Mangel an substanzieller Verbesserung bei Haushalten mit geringem Einkommen. Die Einkommensungleichheit ist im Vergleich zu der Zeit vor der Krise weiterhin hoch. In der EU entspricht das Einkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich dem fünffachen Einkommen der ärmsten 20 Prozent. Die Armutslücke, die bemisst, wie arm die Armen sind3, hat sich in den letzten zehn Jahren insgesamt ebenfalls verschlechtert. Des Weiteren folgt die Armutspersistenz4 – d. h., wie wahrscheinlich es ist, dass Arme arm bleiben – in den letzten zehn Jahren einem ähnlichen Trend.5
Für diejenigen, die am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernt sind, die also in Haushalten mit sehr geringer Erwerbstätigkeitsintensität leben, bleibt die Armutsgefährdungsquote anhaltend hoch und ist 2018 das fünfte Jahr in Folge gestiegen. Dies zeigt, dass die relative Einkommenssituation der schwächsten Gruppen sich nicht verbessert hat, was auf mögliche Lücken bei Angemessenheit und Abdeckung der sozialen Sicherheitsnetze hinweist.
Große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei all diesen Kennzahlen unterstreichen die Herausforderung, EU-weit zu einer Aufwärtskonvergenz zu kommen, die durch die Covid19-Krise noch verschärft wird. In diesem Zusammenhang wird die Rolle der Sozialleistungen zur Abfederung der Auswirkungen der Krise eine Schlüsselrolle spielen. Angesichts des Ausmaßes des zu erwartenden Drucks auf das Einkommen und die Armut der Haushalte ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die automatischen Stabilisatoren ihre Rolle zur Unterstützung der Haushalte voll wahrnehmen und dass zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, um bestehende Lücken in den Sozialschutzsystemen zu schließen.
Politische Maßnahmen – die Säule und der Ansatz der aktiven Eingliederung
Ein Sicherheitsnetz, das ein Leben in Würde gewährleistet, ist entscheidend bei der Bekämpfung der Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung. In einer Zeit, in der Übergänge in Bezug auf den Arbeitsmarktstatus für eine wachsende Zahl von Personen immer schwieriger werden, ist ein solches Netz von wachsender Bedeutung und macht die Notwendigkeit, niemanden zurückzulassen, immer drängender. Zu diesem Zweck legt der Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte Folgendes fest: „Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.“
Die „Empfehlung des Rates über gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung“6 von 1992 legt eine Reihe von Grundsätzen und Leitlinien fest, wie z. B. die Bestimmung des Betrags von Zuwendungen, die unter Berücksichtigung von Lebensstandards und Preisniveaus für unterschiedliche Arten und Größen von Haushalten als notwendig erachtet werden, um Grund-bedürfnisse abzudecken, die Erhaltung des Anreizes zur Arbeitssuche und das regelmäßiges Anpassen der Leistungshöhe, damit der Bedarf fortlaufend abgedeckt ist.
Aufbauend auf der Empfehlung von 1992 hat die Kommission 2008 eine „Empfehlung zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen“7 verabschiedet. Die Empfehlung spricht sich für eine Überprüfung der Sozialschutzsysteme als Teil der umfassenden und kontinuierlichen Bemühungen zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung aus. 2013 wurde mit dem Paket zu sozialen Investitionen (SIP) der Europäischen Kommission8 dieser integrierte Ansatz weiter gestärkt, wobei die entscheidende Bedeutung der Befähigung und Unterstützung von Menschen in allen Lebensphasen hervorgehoben wurde. Dieser Ansatz wurde 2016 in Ratsschlussfolgerungen bekräftigt.9 Überall wird ein dreigliedriger Ansatz gefordert, der wiederum in den Grundsatz 14 der Säule zum Mindesteinkommen aufgenommen wurde:
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Mit dem ersten Strang (angemessene Einkommensunterstützung) wird das grundlegende Recht des Einzelnen auf ausreichende Zuwendungen und Sozialhilfe anerkannt, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können.
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Der zweite Strang deckt die Eingliederung erwerbsfähiger Personen in den Arbeitsmarkt ab, sodass sie wirksame Hilfe für die Aufnahme oder Wiederaufnahme einer Beschäftigung erhalten, die ihren Fähigkeiten entspricht. Dies findet sich in der Empfehlung des Rates von 2016 zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt wieder10, wo die Notwendigkeit eines individuellen Ansatzes sowie koordinierter Leistungserbringung betont wird. Politische Maßnahmen sollen gute Arbeit gewährleisten und gegen Arbeitsmarktsegmentierung vorgehen, indem sie Menschen dabei unterstützen, in Arbeit zu bleiben, Armut trotz Arbeit vorzubeugen und ihre Beschäftigungsperspektiven zu verbessern.
- Der dritte Strang fordert eine geeignete soziale Unterstützung für Betroffene durch den Zugang zu hochwertigen Unterstützungsangeboten, mit denen aktive Maßnahmen zur sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung gefördert werden. Es werden auch verschiedene gemeinsame Grundprinzipien, einschließlich koordinierter und vernetzter Leistungserbringung, hervorgehoben, die ebenfalls bestmöglich Berücksichtigung finden sollten.
Die integrierten Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen11 enthalten Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Sinne des aktiven Eingliederungsansatzes unter Aufnahme der Elemente der Europäischen Säule sozialer Rechte. Diese Leitlinien bilden die Rechtsgrundlage für das Verfahren des Europäischen Semesters12 und somit den Rahmen für Überwachung und Koordinierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen in der gesamten Europäischen Union.
Benchmarking-Rahmen zu Mindesteinkommen
Entsprechend dem Subsidiaritätsgrundsatz legen die Mitgliedstaaten die Einkommensunterstützung und den entsprechenden Maßnahmen-Mix fest. In allen Mitgliedstaaten gibt es irgendeine Form der Grundsicherung, doch variiert die Ausgestaltung erheblich, und einige Herausforderungen auf nationaler oder lokaler Ebene sind nach wie vor nicht gelöst. Die Defizite können eine begrenzte Abdeckung, Mängel bei der Angemessenheit der Leistungen, fehlende finanzielle Anreize für die Aufnahme von Arbeit und eine beschränkte Verfügbarkeit von sozialen Angeboten oder von Maßnahmen der aktiven Eingliederung umfassen.13 Die Verbesserung der Wirksamkeit solcher Systeme kann einen erheblichen Unterschied machen und zur Aufwärtskonvergenz beitragen sowie die Schwächsten besser schützen, einschließlich vor den bevorstehenden Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft.
Um die analytische Arbeit des Europäischen Semesters zu stärken, hat der Ausschuss für Sozialschutz14 beschlossen, einen Benchmarking-Rahmen zum Mindesteinkommen zu entwickeln, der 2019 fertiggestellt wurde und seither einen Beitrag zur Analyse des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts, der Länderberichte und der länderspezifischen Empfehlungen leistet. 2019 wurden 14 länderspezifische Empfehlungen im Bereich sozialer Inklusion und Sozialleistungen verabschiedet, von denen vier in direktem Zusammenhang mit dem Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte stehen und sich auf Mindesteinkommen beziehen.
Dank dieses Benchmarkings konnten einschlägige hochwertige Ergebnis- und Performanz-Indikatoren ausgemacht werden. Es wurden auch Indikatoren und/oder Qualitätsgrundsätze für die politischen Hebel definiert, die sich auf die Performanz bzw. Leistungsfähigkeit auswirken (siehe Box). Ein Schwerpunkt wurde auf den aktiven Eingliederungsansatz gelegt – d. h. die Notwendigkeit, angemessene Mindesteinkommensunterstützung, die Umsetzung inklusiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und den Zugang zu hochwertigen Unterstützungsangeboten eng zu verzahnen, sodass diese sich wechselseitig stärken. Drei politische Hebel wurden im Einklang mit dem aktiven Eingliederungsansatz ausgemacht15, und es wurde insbesondere ein Doppelindikator zur Beurteilung der Angemessenheit von Mindesteinkommenssystemen entwickelt.
Indikatoren des Benchmarking-Rahmens
Ergebnis-Indikatoren
Relative Armutsgefährdungslücke der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18–64)
Materielle und soziale Benachteiligungsquote der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18–64)
Armutsgefährdungsquote von Personen, die in (quasi-)arbeitslosen Haushalten leben (18–59)
Performanz-Indikatoren
Auswirkungen von Sozialtransfers (Renten ausgenommen) auf die Armut der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18–64)
Quote der dauerhaften Armutsgefährdung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18–64)
Die Leistungsempfängerquote unter von Armutbedrohten Personen in (quasi-)arbeitslosen Haushalten (18–59)
Lücke bei unerfülltem Bedarf an medizinischen Untersuchungen nach eigener Aussage (18–59)
Lücke bei der Wohnkosten-Überlastungsquote (18–59)
Lücke durch Nicht-Teilnahme an beruflichen Bildungsmaßnahmen
Politische Hebe
Einkommen von Mindesteinkommensempfänger*innen im Verhältnis zur Armutsgefährdungsschwelle
Einkommen von Mindesteinkommensempfänger*innen im Verhältnis zu den Einkommen von Niedriglohnempfänger*innen.
Angemessenheit der Leistungen
Die Höhe der von Mindesteinkommenssystemen erbrachten finanziellen Unterstützung hat eine direkte Auswirkung auf die Fähigkeit des Systems, Armut zu lindern. Jedoch lässt sich die Auswirkung auf die Armut nicht getrennt von anderen Faktoren des Steuer- und Sozialleistungssystems beurteilen. Die Leistungshöhe muss auf Grundlage der verfügbaren Nettoeinkommen bewertet werden, die den Mindesteinkommensempfänger*innen und den Mitgliedern ihres Haushalts zur Verfügung stehen. Mindesteinkommensleistungen stehen in Wechselwirkung insbesondere mit anderen Leistungen (vor allem Arbeitslosen-, Familien- oder Wohngeld), aber auch mit der Ausgestaltung des Steuersystems (z. B. bezüglich der Arbeitsanreize). Daher ist es wichtig, Doppelindikatoren zu nutzen, die das Einkommen eines Empfängerhaushalts abbilden und mit der nationalen Armutsschwelle (60 Prozent des Medianeinkommens) oder dem Einkommen eines Niedriglohnempfänger-Haushalts vergleichen.16
Zugang zu Leistungen:Anspruchsvoraussetzungen
Ein zweiter politischer Hebel liegt beim Zugang, d. h. der Fähigkeit von Mindesteinkommenssystemen, die Bedürftigen zu erreichen. Die Abdeckung von Mindesteinkommenssystemen kann auf der Grundlage von Anspruchsvoraussetzungskriterien bestimmt werden, mithilfe derer die potenzielle Zahl von Leistungsempfänger*innen ermittelt wird. Die Inanspruchnahme der Leistungen bezieht sich auf den Anteil derjenigen, die tatsächlich Leistungen erhalten, aus dem Pool derjenigen, die Anspruch auf Leistungen haben. Theoretische Abdeckung und praktische Inanspruchnahme sind nicht unbedingt identisch, und die verfügbaren Fakten zeigen, dass die Kluft zwischen beiden groß sein kann. Komplexe oder restriktive Anspruchsvoraussetzungen können zu unbegründeten Leistungsausschlüssen oder Nichtinanspruchnahme führen oder dazu, dass das System die schwächsten Gruppen (wie Obdachlose oder Migrant*innen) nicht erreicht. Für diesen politischen Hebel wurde kein Indikator erstellt, aber es wurden einige qualitativ hochwertige Informationen zu Bedürftigkeitsprüfungen und Wohnsitzauflagen gesammelt.
„Komplexe oder restriktive Anspruchsvoraussetzungen können zu unbegründeten Leistungsausschlüssen oder Nichtinanspruchnahme führen oder dazu, dass das System die schwächsten Gruppen nicht erreicht.“
Arbeitsmarktaktivierung und Zugang zu Dienstleistungen
Als dritten politischen Hebel fokussiert der Benchmarking-Rahmen auf integrative arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Zugang zu erschwinglichen, qualitativ hochwertigen Angeboten. Die Ausgestaltung von Mindesteinkommenssystemen sollte Nichterwerbstätigkeitsfallen17 vermeiden, indem negative Beschäftigungsanreize für erwerbsfähige Personen reduziert werden. Der Anspruch auf Mindesteinkommensleistungen ist also generell an Aktivierungsanforderungen gekoppelt.18 Um Arbeitsmarktübergänge zu unterstützen, müssen die Empfänger*innen Zugang zu angemessenen Aktivierungs- und Unterstützungsangeboten haben. Der Zugang zu Angeboten wie Gesundheitsversorgung, Wohnen und Ausbildung ist nicht nur eine unerlässliche Vorbedingung für eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern garantiert auch Nichterwerbsfähigen einen angemessenen Lebensstandard und gesellschaftliche Teilhabe.
Für diesen dritten politischen Hebel wurden keine Indikatoren festgelegt. Es wurde vereinbart, sich auf die drei Performanz-Indikatoren im Bereich Gesundheitsversorgung, Wohnen und Bildung zu verlassen (siehe Box).
Im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht findet sich dieser Benchmarking-Rahmen im analytischen Teil der Leitlinie 8 zur Förderung gleicher Chancen für alle, Unterstützung sozialer Inklusion und Armutsbekämpfung. Es besteht allgemeines Einvernehmen, dass der Rahmen bei der Beurteilung der länderspezifischen Maßnahmen nicht kontextlos angewandt, sondern von einer länderspezifischen Analyse begleitet werden sollte.
Fazit
Soziale Sicherheitsnetze sind zur Gewährleistung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und für gerechte Übergänge von entscheidender Bedeutung. Während die Finanzkrise sich negativ auf die soziale Lage in Europa auswirkte, hat sich dieser negative Trend bis zu Beginn der Covid-19-Krise im Großen und Ganzen umgekehrt. Es bestehen jedoch weiterhin einige Probleme, die ein abgestimmtes Vorgehen zur Sicherung eines wirksamen Mindestsozialschutzniveaus in allen EU-Staaten erfordert, um so eine soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern.
„Soziale Sicherheitsnetze sind zur Gewährleistung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und für gerechte Übergänge von entscheidender Bedeutung.“
In diesem Kontext ist der mit Vertreter*innen der Mitgliedstaaten des Ausschusses für Sozialschutz gemeinsam erstellte Benchmarking-Rahmen zum Mindesteinkommen von erheblicher Relevanz. Durch die Ausarbeitung einer Grundlage für länderübergreifende Vergleiche unterstützt der Rahmen verschiedene Monitoring- und gegenseitige Lernprozesse wie das Europäische Semester sowie Peer Reviews und thematische Überprüfungen. Aufbauend auf diesem Rahmen kann entsprechend dem einschlägigen Grundsatz der Säule gegenseitiges Verständnis und eine Aufwärtskonvergenz bei der Ausgestaltung der nationalen Systeme erleichtert werden.